Jan Svenungsson

Meschede, Friedrich, "brennen, bauen, bilden – Zu den keramischen Schornsteinskulpturen von Jan Svenungsson", in: Schornstein - Katalog - 1992 - 2003, Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Berlin 2004

Jan Svenungsson hat sich als Bildhauer für ein sehr komplexes Motiv entschieden, um seine Vorstellung von Skulptur zum Ausdruck zu bringen: den Schornstein. In Stockholm entstand 1992 die erste Schornsteinskulptur mit 10 Metern Höhe, und um deutlich zu machen, dass es sich um Kunst handelt, wurde sie neben dem Moderna Museet errichtet, so wie neben einem Museum eine Skulptur zu stehen hat. Der Erweiterungsbau des Moderna Museet in Stockholm 1994 führte zum Abriss dieser ersten Skulptur. Jan Svenungsson hatte inzwischen sein Konzept formuliert: Jeder weitere Schornsteinbau hat jeweils einen Meter höher zu sein. So entstanden inzwischen sechs Ausführungen an verschiedenen Orten der Welt, und die bisher letzte Skulptur misst 15 Meter. So wie jeder Schornstein an seinem Standort ein unverwechselbares Bild abgibt, behauptet unabhängig davon jeder einzelne eine Individualität aufgrund der singulären Proportion und Höhe. Eine siebte Version mit 16 Metern Höhe steht nun an zwei möglichen Orten zur Diskussion, einmal neben dem Museum im Hamburger Bahnhof in Berlin, zum anderen an unterschiedlichen Standorten in Ludwigshafen, einer ausgeprägten Industriestadt am Rhein.

Im Schornsteinmotiv verbildlichen sich Widersprüche, die heute metaphorisch zunächst in der (deutschen) Sprache deutlich werden: Um zu sagen, dass wieder gearbeitet wird, der Aufschwung kommt, sagt der Volksmund – nicht des Volkes Stimme –: „Die Schornsteine rauchen wieder“. In diesem Bild äußert sich das urtümliche Vertrauen in die Industrialisierung historischer Prägung. Hier ist der Schornstein jener vertikale Abzugskanal für Verbrennungsprozesse, die die Energie erzeugen, von der alles lebt. Zum anderen aber schimpft die Stimme des Volkes, dass „zuviel zum Schornstein hinausgejagt“ wurde, und meint in diesem Bild eben jenes allgemeinen Verbrennungsprozesses die Vergeudung, mit der Kapital vernichtet wird. Ob positiv oder negativ, jedenfalls ist ein Schornstein immer an die Idee einer Feuerstätte gebunden, ob physikalisch oder metaphorisch, er wird zum abstrakten Behältnis weiterer Auslegungen und verworrener Bilder.

Betrachten wir nun den Schornstein ausschließlich als Skulptur, so ist es Jan Svenungsson gelungen, eine perfekte Form gefunden zu haben: Herausgelöst aus jedem funktionalen Zusammenhang, bietet ihm dieses Architekturfragment die Möglichkeit, eine Form zu entwickeln, die in ihren Dimensionen über das menschlich-figurative Maß sinnvoll hinausgeht, weil sie Proportionen der Architektur aufgreift und zudem auf der Basis einer geometrischen Ordnung sowohl in der Binnenstruktur als auch in der vollendeten Skulptur ideale Formen aufzeigt. Jeder Schornstein baut sich im Grundriss auf einer Kreisform auf, hat also kein vorne oder hinten, erscheint von allen Seiten gleich. Jeder Aufbau basiert auf dem geometrischen Standard der einzelnen Backsteine, die ihrerseits als Modul dergestalt vielfältig fungieren, dass eine harmonische Verjüngung der vertikal-tektonischen Form erzielt wird. Das Bauverfahren, Stein für Stein zur Form zu fügen, bedingt es, jedes Werk wie ein Ganzes erscheinen zu lassen und eine grafische Struktur als Wechsel von Fugen und Volumen zu erzielen, die diese Skulpturen gliedert.

Das Material des Bildhauers Jan Svenungsson enthält dabei selbst eine Referenz zur einmal konzipierten Funktionalität: Ziegelstein, der ja auch „Backstein“ genannt wird, wird durch Brennprozesse Baumaterial. Dieser keramische Baustoff versinnbildlicht seinerseits im Wandel von erdigem Ton zur gebrannten Erde einen Prozess, der in Gestalt des Schornsteins als Industriemotiv Form angenommen hat. So erscheinen die bisherigen Schornsteine von Jan Svenungsson, die nicht rauchen, als Relikte einer Epoche, die von Idealen und gesellschaftlichen Utopien geprägt war. Die Tatsache, dass die Schornsteine nicht mehr rauchen, hat andere, nachfolgende Ideale eingelöst, nämlich die einer weiterentwickelten Industrialisierung, die ihre notwendige Energie rauchfrei zu erzeugen in der Lage ist. Der Himmel über den Industriestandorten ist heute blau, rußfrei, weil die Schadstoffe unsichtbar geworden sind. Die Verbrennung findet woanders statt.

Die Schornsteine von Jan Svenungsson erscheinen in dieser „Reinheit“ ihrer Funktionslosigkeit und in der Reinheit ihrer Form wie nachdenkliche Gedankengebäude, zum Träumen einladende Gebilde, deren Rauch zu einem Rausch von Assoziationen werden kann. Plötzlich wird der Aspekt des „durch den Schornstein Hinausjagens“ von Bedeutung. Der Schornstein wird zum Bild des Luxus, hier verbrennt etwas, was nicht verbrennen kann. Wir vergeuden Vorstellungen. Hier brennt etwas, was Energie für die Imagination bringt. Der Schornstein birgt unsere Ideen in dem hohlen Schacht, im unsichtbaren Kanal, der nach oben und unten beide Richtungen zulässt. Im Inneren denken wir eine dunkle Leere, die nur existiert, weil eine starke Hülle sie hält. Der Schornstein ist ein Motiv, das ein Innen und Außen gleichzeitig hat und immer bedingt. In den Zeichnungen von Jan Svenungsson werden Schornsteine zu abstrakten Figuren: Sie stehen, liegen, lehnen, atmen, zerbröseln, fallen, ziehen andere Motive an und verbinden sich so zu einer eigenen Bilderwelt, die ihre Verbindung im Surrealismus weiß. Jan Svenungsson weiß, wie Schornsteine eine Welt entwickelt haben und sie deshalb wichtig sind, um heute diese Welt mit Ideen weiterzuentwickeln mit geistiger Energie von Kunst, auch eine alte Utopie.

Der erste Schornstein wurde zerstört, um einem Museum zu weichen. Im Hamburger Bahnhof zu Berlin befindet sich jetzt ein imaginärer Ausschnitt, aber ein realer Baukörper im Museum. Hinter der gerundeten Wand verbirgt sich im Innern die Geschichte aller Schornstein, die Jan Svenungsson bisher erbaut hat. Wahrzeichen sind sie, als solche werden sie gesehen, wo immer sie einen neuen Ort markieren. Als gebautes, gedachtes Segment im Ausstellungsraum des Museums stellt sich uns die Frage, wer war zuerst da, der Schornstein, der bewahrt werden sollte – als Industriedenkmal – oder das Museum, das Ideen aufbewahren soll, die sich in außergewöhnlicher Form zu erkennen geben. Als was erkennen wir diese Schornsteine von Jan Svenungsson? Die Antwort liegt, wie immer seit der Kunst des 20. Jahrhunderts, beim Betrachter selbst. Das 19. Jahrhundert hat die Schornsteine hervorgebracht, das 20. Jahrhundert hat sie überflüssig gemacht, deshalb können sie fortan dem 21. Jahrhundert dazu dienen, eigene Gedanken zu produzieren.

Friedrich Meschede