Jan Svenungsson

Lütkemeyer, Marcus. "Skulptur-Biennale 2001 im Kreis Steinfurt",

in: Kunstforum # 157 November – Dezember 2001


„Artline 5" in Borken und „Sonsbeek 9" in Arnheim sind nur zwei Veranstaltungen in diesem Jahr, die in relativer Nachbarschaft den pedialen Aktionismus kunstwilliger Wandertouristen eingefordert haben. Die kostenschweren Freilichtprojekte verbindet die Absicht, dem urbanen und ländlichen Außenraum künstlerische Interventionen einzuschreiben, die unsere Alltagswahrnehmung nachhaltig auf die Probe stellen wollen. Dass die Kunst dabei nicht nur die sanktionierten und seit den periodischen Skulptur-Projekten in Münster regelrecht liebgewonnenen, ja nahezu traditionellen Areale des „öffentlichen Raums" okkupiert, sondern sich mittlerweile auch in Einkaufspassagen einnistet, mag nicht zuletzt an einer gewissen Überpopulation liegen. Doch spätestens im funktionalen Ambiente geklonter Konsumtempel wird eine Haltung evident, die sich auch in den geringen Besucherzahlen der diesjährigen Außenraumspektakel niederschlägt: Die Eingriffe werden schlichtweg übersehen oder einfach goutiert. Denn sie sind in den Bestand des visuellen Bewusstseins eingegangen und können mit unserer vertrauten, an medialer Ästhetik geschulten Bildverarbeitung jederzeit abgerufen werden - als Imagination and Projektion. Dabei bewirkt die augenfällige Redundanz einen Unmut, der sich tragischerweise statt gegen die verantwortlichen Regisseure zunehmend gegen die teilnehmenden Künstler richtet.

Um räumliche Entzerrung bemüht sich die Skulpturen-Biennale Münsterland seit 1999. Ab Anfang Juli 2001 gastiert die zweite Etappe der vierzügigen Langzeitveranstaltung für (vorerst) zwei Jahre im Kreis Steinfurt. Aus 21 internationalen Bewerbern sind 12 Künstler(-Gruppen) auserkoren, an landschaftstypischen Standorten ihren grünen Daumen zu erproben. So gilt es, unter Aufsicht des Berliner Kurators Christoph Tannert das weite Feld der „Münsterländischen Kulturlandschaft" zu beackern. Dabei hat sich das Planungsteam viel vorgenommen. Denn weiterhin ist die Gratwanderung des als Intermezzo der Münsteraner Skulpturenschauen gedachten, bis 2007 geplanten Großprojektes zwischen Adaption, Eigenständigkeit und fraglicher Aktualität zu meistern - zumal Florian Matzners Vorlage in der ersten Saison 1999 nicht gerade steil war. Doch Tannert nimmt das mit einem Budget von 1,3 Mio. DM sportlich. Rekrutierte der alte Chef noch zahlreiche Künstler aus der Personalkiste Kasper Königs, um sie auf die Schlossanlagen im Kreis Coesfeld loszulassen, wartet der neue Coach mit wohltuend unverbrauchten Namen auf - abgesehen - vielleicht von Via Lewandowsky und Kendell Geers.

Einmal in die domestizierte Natur ausgeschwärmt, fanden die Freiluftakteure ein brav gescheiteltes Idyll im Kommunionsanzug vor, das wenig authentisch daherkommt. Und doch dient es den Einheimischen nach wie vor als romantisches Projektionsfeld sublimer Sehnsüchte. Genau hier setzt das Konzept Tannerts an. Statt Standortbespaßung und Landschaftsmöblierung besinnt sich der Berliner eher auf althergebrachte Wahrnehmungsmuster- fordert der Rundgang im Kreis Steinfurt doch trei nach Benjamin den Typus eines Großraum-Flaneurs ein. So muss sich der Skulpturenwanderer für die Erkenntnis offen halten, dass mit einer Verschiebung des Gesichtswinkels bei gleichbleibenden Maßstäben auch ein positives und ein anderes zu Tage treten und der Blick für das Außergewöhnliche, das bisher noch Ungesehene im Vertrauten geschärft werden kann. Vor allem auf das Sublime wollen die heterogenen und situationsspezifisch verorteten künstlerischen Eingriffe zielen, das es laut Ausstellungskonzept als ureigenste Qualität von Kunst zu bündeln und freizusetzen gilt - nicht zuletzt um diese Eigenart im internationalen Diskurs bewusst zu halten. Fraglich bleibtjedoch, ob denn das Erhabene zwangsläufig eine substantielle Qualität jeder ästhetischen Erfahrung ist...

Dass Christoph Tannert dabei Kunst als „sozialpolitische Kategorie" versteht, verdeutlichen die Arbeiten von Kendell Geers und Ronald Jones. „Waiting for the Barbarians" nennt Geers eine martialische Installation in Hörstel, deren ästhetisch aufgeladene Leichtigkeit irritierend mit der latenten Gefahr physischer Verletzungen konkurriert. So hat der Südafrikaner aus Natodraht und Sicherheitszaun eine labyrinthische Struktur gefertigt, die das Verhältnis von Innen und Außen, Schutz und Isolation beunruhigend camoufliert - was sich angesichts der wild wuchernden Natur, der das Metallgeranke überantwortet wurde, trügerisch potenziert.

Ohne doppelten Boden, im Sinne einer Sozialplastik funktioniert der Beitrag von Ronald Jones. „The Lengerich Garden Project" basiert auf einer Kooperation mit der Westfalischen Landesklinik. Gemeinsam mit den Patienten hat Jones ein Gartenkonzept erarbeitet, das in Kliniknähe realisiert werden konnte. Dabei will die Anlage aus Beeten und Wegen jedoch nicht als künstlerisch verklärte Topographie pathologischer Strukturen verstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine sinnlich prozessuale Skulptur, die ebenso als Transformation individueller Träume und Sehnsüchte der Klinikbewohner in der für sie oft unerreichbaren Öffentlichkeit Gestalt gewinnt, wie sie unprätentiös als Ort der Entspannung dienen kann.

Indessen beleibt die geradezu lapidar anmutende Klanginstallation von Dagmar Demming dem Imaginären verhaftet. In der Nähe des Kloster Gravenhorst bei Hörstel hat die Künstlerin eine „Zone" abgesteckt, in der mitunter ganz unkatholische Fürbitten verlesen werden. Insofern Demming sich dabei eines Audio-Beams bedient, der den Ton punktgenau auf den jeweiligen Hörer fokussiert, wandelt sich der Vortrag in ein eindringlich intimes Erlebnis. Zwangsläufig korrelieren die im Münsterland gesammelten, phrasenhaften und banalen Sehnsüchte mit eigenen Wünschen und lässt die Tonberieselung nicht nur mit Blick auf aktuelle Ereignisse - zu einer sehr unangenehmen Kopfwäsche werden.

Bewirkt Dagmar Demmings Wunschfeld subtile Schwindelgefühle, so markiert Jan Svenungssons gemauerter Schornstein trotz enormer Höhe eine geradezu monumentale Statik. Als sechste Version einer progressiven Reihe überragt der nun an einem Waldrand bei Greven errichtete Ziegelzylinder unvermittelt einen struppigen Wiesengrund. Dabei will dieser Atavismus überkommener Industriekultur keinesfalls in ökologischen Diskursen menetekeln. Denn trotz seiner eindeutigen Form erweist sich der Turm als freie skulpturale Setzung, die wie ein architektonisches Lot zwischen den Vegetationszonen vermittelt und zugleich den Betrachter mit einer merkwürdig archaischen Ästhetik rein körperlich befangt.

Dagegen ermessen die Beiträge von Sabine Hornig, Vittorio Messina und Won Ju Lim den münsterländischen Landschaftsraum getreu dem Motto: Die Erfahrung des Raumes bestimmt den Raum der Erfahrung, aus unterschiedlichen Perspektiven - zumal die Kultivierung den (topographischen) Rahmen des Untersuchungsgegenstandes bereits vorgegeben hat. Da nichts die Welt so abbildet wie sie ist, sondern die Konstruktion der Abbildung die Vorstellung der Wirklichkeit bedingt, unternehmen die Künstler autoritäre Eingriffe, die den Blick auf die unmittelbare Umgebung steuern und manipulieren. So erzeugen Messinas „Two Green Windows", zwei achsial ausgerichtete monumentale Fenster bei Rheine, das kubische durchbrochene Rohbaufragment „Emsakropolis" aus Betonschalguss von Hornig nahe Dörenthe, aber auch die Videoinstallationen Won Ju Lims, die den realen Blick vom Bismarckturm auf das Tecklenburgerland mit virtuellen Landschaftssequenzen verblendet, je eigene Betrachtungsvertahren. Ziel ist die 'korrekte' Verwandlung der Lebenswelt in perspektivische Abbildungen, die eine exakte Konstruktion der Landschaftsillusion ermöglichen zeichnet sich doch das mit hohem Aufwand individuell immer neu zu erlernende perspektivische Sehen für den Riss zwischen Subiekt und Objekt, für die Entleerung der Lebenswelt verantwortlich. Was also die höchste Souveränität in der menschlichen Weltabbildung zu manifestieren scheint - die freie Wahl von Augenpunkt und Rahmen -, hat in Wahrheit die tendenzielle Tilgung des leibhaftigen, 'spontanen' Sehens zur Voraussetzung. Und erst dort, wo der Blick seinen Augen nicht mehrtraut, kann es zu neuen Erkenntnissen kommen.

Neben (wahrnehmungs-)didaktischen Ansätzen sind aber auch künstlerische Pointen erlaubt. So hat sich Via Lewandowsky dem Sport gewidmet und einen würfeltörmigen Metallkäfig achtlos auf die Seite gekippt. Mit dem Schriftzug „EMSSPORT" kopfüber im Dreck liegend, ist er dennoch nicht funktionslos. Denn die Ruine der Freizeitgesellschaft vermag nicht nur Assoziationsketten in Gang zu setzen, sondern konfrontiert den Betrachter zugleich mit seiner verstörenden Ungewissheit über Sinn und Zweck des Kubus. In Gedanken gedreht und gewendet verrät der Gitterkäfig alles, aber offenbart nichts. Derart auf die eigenen Wahrnehmungsmuster zurückgeworfen, wird hier letztlich reiner Denksport betrieben.

Weitaus weniger hintersinnig wirken die auf optische Effekte zielenden Markisen von Ottmar Sattel. An einer Emsbrücke montiert, überspannen die monochromen Stoftbahnen den Fluss und ermöglichen immer neue Kombinationen im Spiel von Licht und Schatten. Dabei verspricht die Brücke einen „trockenen" Blick auf den malerisch kalkulierten Farbwechsel. Nasse Füße garantieren hingegen die Positionen von Robert Scheipner, Mariele Neudecker und lnges idee. Während das Künstlerkollektiv die flussläufige Landschaftsteilung - als topographische Grundfigur des Münsterlandes - in der Nähe von Emsdetten in einen absurden „Bolzplatz" mit überflutetem Mittelfeld verkehrt, besticht Scheipners Entwurf hydrophiler Emissionsplastiken durch ein ingenieur-technisches Kalkül. Im Uberschwemmungsgebiet der Ems nahe Hembergen installiert, lösen sich bei Hochwasser große Kugeln, um die in ihnen hinterlegten Basisinformationen zum Werk in die 'unendlichen Weiten' Westfalens zu tragen - was mit Blick auf die Anbringung der Schwimmkörper eine Jahrhundertflut voraussetzen würde. Dass solche 'Sintfluten' das Münsterland tatsächlich heimsuchen und ganze Ortschaften im Wasser untergehen können, will Mariele Neudecker glauben machen. Als Tatort dient der Künstlerin der Steinfurter Tiggelsee, aus dessen Oberfläche ein „Versunkenes Dorf' mit merkwürdig modellhaften Proportionen lugt. Jedoch belässt die mystische submarine Installation in unmittelbarer Nachbarschaft einer Wohnsiedlung weitgehend im Vagen, was sich tatsächlich am Boden des Gewässers befindet. So gehen spektakuläres künstlerisches Verfahren und Standortwahl schelmisch eine (selbstreflexive) Allianz ein, die höchst irritierend die Grundfeste des romantischen Projektionsfeldes Münsterländische Kulturlandschaft zu erschüttern vermag: Denn hier ist kaum etwas so, wie es erscheint.

Ob das Konzept im Kreis Steinfurt letztlich aufgeht und die Halbwertzeit der Skulpturen mit Blick auf die wenig umsorgten Arbeiten der ersten Etappe im Bereich Coesfeld durch gewissenhafte Pflege verlängert wird, kann mindestens bis 2003 mit der nötigen Kondition - vor Ort überprüft werden. Doch einen Aspekt des Diskurses vernachlässigt die weitverstreute Skulpturenschau von Beginn an sträflich: Verdeutlicht nicht gerade die Münsterländische Kulturlandschaft, dass Natur heute weniger Wirklichkeit, als vielmehr eine Wahrnehmungstorm ist, die auf ästhetischer Vermittlung beruht? Den evidenten Zusammenhang von kulturhistorischer Überlieferung und aktueller Wirklichkeitswahrnehmung in einer mediengesteuerten, auf beschleunigte Verwertung ausgerichteten Alltagswelt zu hinterfragen, wäre Aufgabe von Kunstwerken, die zur Beleuchtung der Landschaftserfahrung vorrangig auf die Mechanismen zielen, denen sich diese Erfahrungen zuallererst verdanken.

Marcus Lütkemeyer