Jan Svenungsson

Jahre, Lutz. "Jan Svenungssons »Hebdomeros« von Giorgio de Chirico",

in: Aus dem Antiquariat, # 11, 1999


Wenn aus bekannten Dingen eine vollkommen unbekannte Welt entsteht, kann vieles im Spiel sein: ein Witz, Wissenschaft und Forschung oder aber auch die Kunst. Bei Giorgio de Chirico war es die Malerei. Heute nahezu vergessen ist, daß de Chirico nicht nur mit Farben gemalt hat, sondern auch mit Worten. Nachdem de Chirico, der einst eines der großen Vorbilder der Surrealisten war, sich 1919 von der metaphysischen Malerei abgewandt hatte, um fortan in klassischer Manier zu malen, erregte er den Unmut der Surrealisten. Andre Breton hielt ihm 1925 sogar öffentlich vor, er würde durch seinen Richtungswechsel seine eigenen Ideale verraten. Allen Querelen zum Trotz wurde de Chirico jedoch vier Jahre später wieder das ungeteilte Lob der Surrealisten zuteil, nun aber nicht für seine Malerei, sondern für einen Roman, den er 1929 unter dem Titel "Hebdomeros. Le peintre et son genie chez l'ecrivain" l. veröffentlicht hatte. Selbst Breton und Aragon, seine leidenschaftlichsten Widersacher, hielten mit ihrem Beifall nicht zurück, de Chirico hatte ein Meisterwerk surrealistischer Literatur geschaffen.

"Hebdomeros" ist ein Roman mit autobiographischen Zügen, der vermutlich im griechischen Volos spielt. Der Ort ist allerdings im "Hebdomeros" nirgends explizit genannt. In Volos verbrachte Giorgio de Chirico von 1888 bis 1899 seine Kindheit. Sein Vater Evaristo, ein italienischer Ingenieur, war dort einige Jahre für den Bau einer Eisenbahnlinie zuständig. Volos, eine wachsende Industriestadt, war auch ein Ort mit mythologischen Ursprüngen. Der Sage nach brachen Jason und die Argonauten von hier aus auf, um sich auf die Suche nach dem Goldenen Vlies zu begeben. Mythologie, Geschichte und persönliche Erinnerungen - beispielsweise an den Vater oder an Kindheitserlebnisse - fügte de Chirico ebenso in seine Romanbilder ein wie die Elemente der pulsierenden Gegenwart: die Eisenbahn, das Treiben in den Cafes und auf den Plätzen, die Geräusche der modernen Stadt... In dieser Perspektive lebt auch de Chiricos Bildwelt in gewandelter Form auf, etwa wenn er beschreibt, wie ein belebter Marktplatz sich mit dem schattenwerfenden Licht der nachmittäglichen Sonne in einen jener leeren, nur noch von Statuen belebten Plätze verwandelt. Ebenso prägen die Metaphysik, philosophische Gedanken und Betrachtungen zur Kunst an zahlreichen Stellen den Roman. Bemerkenswert ist, daß dort auch Paris und de Chiricos jüngere Vergangenheit mehrfach ihren Platz gefunden haben. Oft wird in "Hebdomeros" von den Vorzügen der Städte des Nordens gesprochen, und manche Szenen könnten geradezu in Paris spielen. Einige Passagen spiegeln auch die Auseinandersetzung mit den Surrealisten wider: »Er schreckte vor solchen Gesprächen zurück, obwohl ihm im Grunde die rätselhafte Seite der Wesen und Dinge instinktiv anzog. Aber die anderen flößten ihm Mißtrauen ein, jene, die mit ihm diskutierten; er scheute ihre Eigenliebe, ihren Unwillen, ihre Hysterie, er wollte bei seinen Freunden keine widersprüchlichen Gefühle wachrufen; auch scheute er ihre Bewunderung; all dies: Hervorragend! Unerhört! Erstaunlich! bereitete ihm nur ein sehr mäßiges Vergnügen und verwirrte ihn zuletzt.« 2.

Die Erzählstruktur des "Hebdomeros" ist der Gedankenstruktur eines Tagtraums ähnlich. Entsprechend entwickelt sich der Roman aus dem Fluß ständig wandelnder Bilder und Ideen. Ein kleiner Gedanke, manchmal nur eine einzige Wendung, führen von einem Bild ins nächste, und schon beginnt "Hebdomeros", de Chiricos literarisches Alter Ego, von neuem damit »... eine jener scheinbar vollkommen logischen, im Grunde aber völlig metaphysischen Geschichten zu erzählen« 3.

»...Und dann begann die Besichtigung jenes seltsamen Gebäudes...« 4. Dieser unvermittelt einsetzende Beginn von de Chiricos Roman hing gleich links neben der grünen Eingangstür der Galerie Anders Tornberg in Lund. Auch dort konnte man ein seltsames Gebäude besichtigen, nämlich die Galerieräume, in denen "Hebdomeros" als ein begehbares überdimensioniertes Buch zu sehen war. In diesem Frühjahr war dort die "Hebdomeros"-Übersetzung von Jan Svenungsson ausgestellt. Eine Übersetzung, die nicht nur auf de Chiricos Buch zielte, sondern auch auf die Frage, wie man aus sprachlichen Bildern tatsächliche Bilder entstehen lassen kann.

Jan Svenungsson, ein schwedischer Künstler, der heute in Berlin lebt, hatte de Chiricos Buch Anfang der 80er Jahre in einem surrealistischen Antiquariat in Paris entdeckt. De Chiricos Bilder waren ihm von vielen Museumsbesuchen bekannt, von dem Buch hatte er bislang nur gehört. Als er es zum ersten Mal las, stellte er rasch fest, daß es nicht einfach zu verstehen war. Passagen, die in Französisch total schlüssig klangen, wurden rätselhaft, als er sich daran machte, in seiner Sprache verstehen zu wollen, was sie wirklich sagten. Erste Übersetzungen 5. des "Hebdomeros" waren relativ spät, in den 60er Jahren, erschienen. Eine schwedische Übersetzung indes gab es damals noch nicht, und so entschloß sich Svenungsson, das Buch selbst zu übersetzen, nicht als Sprachexperte, sondern als bildender Künstler.

Zunächst fertigte er eine einfache sprachliche Übersetzung vom Französischen ins Schwedische an und stellte dabei fest, daß es auf diese Weise nicht gelingen würde, die Präzision, mit der de Chirico seine Bildwelt literarisch festgehalten hatte, wirklich zu erfassen. Obwohl de Chirico seinen Roman ohne Illustrationen veröffentlicht hatte, begann Jan Svenungsson damit, sich zuerst ein visuelles Bild zu machen. Er fuhr nach Griechenland, um Volos aufzusuchen, den Ort, dessen Atmosphäre de Chirico und vermutlich auch "Hebdomeros" so stark geprägt hat. Dort machte Svenungsson zahlreiche Photos. Zwischen diesen Photos und de Chiricos Bildwelt, die sich auf die Zeit vor 1899 bezieht, als er mit seinen Eltern aus Volos fortzog, liegen beinahe 100 Jahre. Dennoch förderten die Photos Erstaunliches zutage. Beispielsweise zeigen Svenungssons Photographien verrostete Dampflokomotiven, die auf einem Abstellgleis des heutigen Bahnhofs stehen. Es handelt sich um genau jenen Typ von Lokomotiven, den de Chirico so häufig in seinen Bildern gemalt hat. Über das Dokumentarische hinaus offenbarten die Photographien jedoch auch noch etwas anderes, jene vergangene Atmosphäre einer Stadt, die de Chirico so oft im "Hebdomeros" beschwört. Der Hafen, das Meer, die Hügel um Volos, die leeren Straßenzüge einer Industriestadt, die alten Villen mit kleinen Parks, die Ruinen verfallener Häuser all diese "metaphysischen" Orte wirken auch heute noch so, als hätte de Chirico sie soeben beschrieben.

Angesichts dieses unerwarteten Ergebnisses entschloß sich Jan Svenungsson, die Bilder zusammen mit dem Text zu verwenden. Ausgehend von den Bildern änderte er auch seine Übersetzungs-strategie und benutzte nun die Bilder als Quelle seiner Übersetzung. Er behandelte die Photos nicht als Illustration für den Text, sondern benutzte nun den Text als literarische Illustration für die Photos. Mit dieser Idee gelang es ihm, endlich zu einer Übersetzung zu kommen, die ihn zufriedenstellte.

Ein Buch zu übersetzen, heißt immer, es einerseits zu kopieren und es andererseits neu zu schreiben. Jan Svenungsson übertrug seine Übersetzung zeichnerisch Seite für Seite auf Papierbögen im Format von 56 x 76 cm. Das Layout, die Seitengröße und die Seitenzahl waren so bemessen, daß das Buch alle verfügbaren Wände der Galerieräume einnehmen konnte. Auch versuchte Svenungsson in seiner mit Tusche handgeschriebenen Version ein gedrucktes Schriftbild wiederzugeben. Die insgesamt 108 Blätter umfassende Arbeit gibt deshalb nicht nur eine Übersetzung, sondern auch einen Schreibprozeß wieder. Während auf den ersten Seiten die Lettern mit einer minutiösen Akkuratesse kopiert wurden, fast so wie bei mittelalterlichen Buchmalern, ist den späteren Blättern der enge Zeitrahmen anzusehen, der noch verblieben war, um sie rechtzeitig für die Ausstellung fertigzustellen. Bei manchen Seiten sieht man sogar, wann der Stift zur Neige ging. Auch Schreibfehler, Schwärzungen missglückter Zeilen, Korrekturen und Tintenkleckse waren kein Anlaß, eine Seite von vorn zu beginnen. Einige Korrekturen ergaben sich offensichtlich daraus, daß Svenungsson während des Schreibens eine bessere Übersetzungsvariante eingefallen war. Der Schreibprozeß ist zugleich Übersetzungsprozeß! Die einzelnen Blätter bekommen durch diese verschiedenen Prägungen unabhängig vom Text eine sehr individuelle Gestalt. Svenungsson hebt diese Zufälle, die einer sehr systematischen und disziplinierten Arbeit entsprungen sind, bewußt hervor, indem er von einigen mißglückten Partien vergrößerte Bleistiftzeichnungen anfertigte, die er ergänzend in die Reihe oberhalb der Buchseiten gehängt hatte. Manchmal benutzt er diese Ausschnitte, um einzelne Wörter und Sinnfragmente des "Hebdomeros" aus den Seiten zu zoomen. Dann tauchen häufig im Roman vorkommende Schlüsselbegriffe wie »Atmosphäre« oder »die heißen Monate« auf. Auch werden Wörter hervorgehoben, die auf der Ebene des Romans und in der Gegenwart des Betrachters selbst wie Bilder wirken: »Jetzt, Einsam oder sein Leben riskieren« steht dann zu lesen. Ausgehend von diesen hervorgehobenen Zeichnungen überprüft der Betrachter die Situation auf dem Blatt und kann feststellen, daß die vergrößerten Bleistiftzeichnungen tatsächlich die Kopie eines Ausschnitts der Seite darstellen, und noch etwas anderes. Im Gegensatz zu einer mechanischen Kopie, wie sie etwa aus einem Kopiergerät käme, zeigen sie mehr: eine andere Größe, eine andere Technik und vor allem eine andere Sichtweise. Nicht zuletzt an diesem Punkt wird auch offenbar, welch unterschiedliche Ebenen des Buches Jan Svenungsson versucht hat, zu übersetzen. Die Methode der Übersetzung verweist nun auch deutlich auf zentrale Themen in Jan Svenungssons künstlerischem Werk. Seit Jahren erforscht er den Wandel von Inhalten, der mit dem Kopieren einhergeht.

Auch die Photos, die ganz- und halbseitig auf den Buchseiten montiert sind, machen nochmals deutlich, daß Svenungsson versucht hat, nicht nur einen Text zu übersetzen, sondern seine eigene Bildwelt entstehen zu lassen. Wie schon zuvor bei den vergrößerten Seitenausschnitten versucht der Betrachter, die Quelle der Photos im Text ausfindig zu machen, und eine entsprechende Passage in deren typographischen Umgebung zu finden. Das allerdings gelingt nicht eindeutig. Weil die Bilder nicht direkt den Text illustrieren, bleiben sie genauso wie de Chiricos Text offen. In welchem Verhältnis der Text, der ja selber auch ein Bild ist, und das Photo zueinander stehen, läßt sich nur in einer eigenen Übersetzung des Betrachters klären.

In der Galerie standen zehn Stühle, die Jan Svenungsson sich für seine Ausstellung von Freunden und Künstlern ausgeliehen hat. Sie verweisen unter anderem auf die Zeit und auf die Zurückgezogenheit, die das Lesen erfordert. Wie unterschiedlich Lesen indes ausfallen kann, wird auch den verschiedenen Arten von Stühlen deutlich, die in der Galerie ihren Platz gefunden haben. Sie reichten vom behaglichen Ohrensessel über einen Rollstuhl, bis hin zum spärlichen Atelierhocker. Natürlich ist ein Buch im Raum einer Galerie, trotz Stühlen, nicht nur ein Buch, sondern zugleich auch das Bild eines Buches. Entsprechend hat Jan Svenungsson zwei identische Versionen des "Hebdomeros" angefertigt, die unterschiedlich benutzt werden. Die eine Version hing in der Galerie, wo der Betrachter einzelne Fragmente des Buches lesen konnte, um einigen von de Chiricos metaphysischen Bildern zu folgen. Diese Version setzt sich entsprechend aus über 100 Einzelwerken zusammen, die nur in der Ausstellung als Buch zusammengefaßt war. Das Buch löst sich damit in einzelne Blätter und Vorstellungen auf. Die andere Version des "Hebdomeros" - gedacht für ein Museum - hingegen bleibt in der Einheit des Buches erhalten und soll als ganzes Buch bestehen bleiben.

Lutz Jahre