Jan Svenungsson

Mayerhofer, Susanne; Utermöhlen, Bernd; Frerichs, Klaus: "Der Siebte Schornstein", in: A Whiter Shade of Pale - Kunst aus den nordischen Ländern an der Unterelbe, Landschaftsverband Stade 2005


Jan Svenungsson - Ein Überblick
Jan Svenungssons Arbeiten finden in bisher über hundert Ausstellungen internationale Beachtung. Besonders fasziniert den Künstler die Fotografie, ihre relativ große Eigenständigkeit dem Autor gegenüber. Ähnlich wie Duchamp bei den Readymades versteht Svenungsson die Wahl - die Entscheidung für ein (vorliegendes) Foto - als wesentlichen künstlerischen Akt. Darüber hinaus bearbeitet er Fotos, um Schornsteinbauten an vorgesehenen Standorten zu simulieren, oder manipuliert sie durch eine motivangepasste, dunkle Rahmung. So erzeugt er 'Foto-Objekte', die ihre eigene Präsenz vermitteln, aber aufgrund der epitaphartigen Anmutung auch die Abwesenheit des fotografierten Objekts thematisieren.

In Ölbildern mit dem Titel "TEST-paintings" täuscht er expressionistische Darstellungen von Blutflecken vor. Erst bei genauem Blick ist die minutiöse Machart (nach Vorlagen) zu erkennen, wodurch die schockierende Gegenständlichkeit fraglich wird. In anderen Versuchsreihen erkundet der Künstler die Abweichung vom Original anhand von Zeichnungen, die er immer wieder kopiert, bis neue Bedeutung entsteht.

Svenungsson schreibt Texte, produziert Künstlerbücher und übersetzt den 1929 veröffentlichten Roman "Hebdomeros" von Giorgio de Chirico, indem er neben der Sprache bildnerische Methoden, zum Beispiel Fotos der 'Schauplätze', einsetzt.

Das Motiv 'Schornstein' taucht im Werk Svenungssons seit 1988 in unterschiedlichen Medien (Fotografie, Zeichnung, Druckgrafik, Malerei, Bronzeguss, Video, Internet) auf. Der erste gebaute "Schornstein" wird 1992 neben dem Stockholmer Moderna Museet als 10 Meter hoher, frei stehender Turm aus Ziegelsteinen nach einem Foto errichtet. Diesem als Bild eines Bildes konzipierten Objekt folgen weitere turmartige Skulpturen im Stadtraum oder in der Landschaft auf der Expo in Korea, in Finnland, Deutschland und Schweden. Sie sind jeweils einen Meter höher als ihr Vorgängerbau. "Der Siebte Schornstein" ragt als idealtypisch aufstrebende, allseitig 'schöne' Skulptur in Buxtehude 16 Meter hoch. Die Zahlenangabe im Titel verweist auf das über verschiedene Länder ausgebreitete Svenungssonsche Netzwerk von 'Schornsteinen'.(1)

Trotz handwerksgerechten Aufbaus stiftet die künstlerische Praktik der Isomorphie (gleiche Form) nicht Einheit zwischen Bild- und Alltagswelt, sondern stellt die prinzipielle Differenz zwischen der Schornsteinskulptur und einem echten Schornstein heraus.(2) Svenungssons dreidimensionale Bilder - Äußerungen unserer, nicht Dokumente einer vergangenen Zeit - haben nicht die Funktion von Schornsteinen. Sie werden niemals rauchen.

In seinen Werken setzt sich Svenungsson mit Fragen nach dem Potential des Kopierens und dem Wesen des Bildes auseinander.(3) Mit dem Bildobjekt 'Schornstein', das die Bereitschaft zum Perspektivwechsel einfordert, verändert er die Stadtansicht. Es entsteht die neue Qualität eines öffentlichen Raumes, der zur ästhetischen Anschauung und als Denkraum für verschiedene Interpretationen dienen kann.

S.M.

Schornstein und Industrialisierung
Mit Skulpturen in Form von Fabrikschornsteinen knüpft Jan Svenungsson an die Geschichte der Industrialisierung(4) an. Die Form des runden, konischen Turms – so beschreibt er selbst diese Skulpturen – entspricht der Form, die durch Erfahrung und Berechnung für die hohen Rauchabzugskanäle gefunden wurde. Die großen frei stehenden Schornsteine stellten als selbständige Bauwerke zu Beginn der Entwicklung einen völlig neuartigen Bautyp dar. Gustav Lang (1850–1915) beschreibt sie 1896 als schlanke thurmartige Bauwerke.(5) Als älteste ihm bekannte Abbildung eines selbständigen Schornsteins nennt er die Zeichnung zu Thomas Saverys Dampfpumpe von 1699.(6) Schornsteine veränderten weithin sichtbar das Stadtbild und wurden zu Kennzeichen von Industriestädten.

Die Industrialisierung wurde nicht nur als Bedrohung empfunden. Die Industriestädte versprachen auch Arbeit und Wohlstand für die rapide anwachsende Bevölkerung, die auf dem Land kaum noch Beschäftigung finden konnte. Die rauchenden Schlote können aus dieser Sicht als Symbol für Modernität gesehen werden. So zeigen Stadtansichten von Friedrich Gottlieb Müller (1816–1908) gerade nicht malerische Ecken und Winkel, sondern moderne Bauten und Industriebetriebe.(7)

Mit dem Aufkommen neuer Techniken verschwanden im 20. Jahrhundert vielerorts die Schornsteine aus dem Stadtbild. In Buxtehude gibt es zurzeit noch drei Schornsteine, die allerdings nicht mehr in Betrieb sind.

Wenn Jan Svenungsson eine Skulptur in Form eines Fabrikschornsteins in der Altstadt plaziert, setzt er ein Zeichen, das mit der Erinnerung an die frühe Industrialisierung Buxtehudes spielt.

In ästhetischer Hinsicht gilt für diese künstlerische Arbeit – ganz im Sinne Jan Svenungssons – die von Gustav Lang in Bezug auf 'Schornsteine wie für alle Nutzbauten' wiedergegebene Regel: Was zweckmäßig und statisch richtig entworfen ist, befriedigt auch das geläuterte Schönheitsgefühl.(8)

B.U.

Form/Gestalt und Funktion eines Objekt-Bildes
Das der klassischen Architektur-Moderne zugeschriebene Prinzip form follows function leitet die Herstellung von Geräten oder Zeug(9) seit dem Beginn menschlicher Artefakt-Kultur. Die intendierte Funktion lässt der Formgebung zwar einen Spielraum, bestimmt aber die Grundform, die für die Erfüllung der Funktion notwendig ist. Wegen dieses Zusammenhangs von Form und Funktion eines Geräts konnte die Semiotik (Wissenschaft von den Zeichenprozessen = Semiosen) den Satz hinzufügen [the] form signifies [the] function. Weil die Form einer bestimmten Funktion folgt, bezeichnet die Form diese Funktion.(10) In der Regel gilt, dass die Form eines Geräts auch dann dessen Funktion erkennen lässt, wenn es sich nicht mehr, (gerade) nicht oder noch nicht in Gebrauch befindet. Da nicht nur die Form, sondern auch die Materialität des Geräts sowie dessen übliche oder – bei Unikaten – singuläre Platzierung in der Artefakt-Welt der Funktion entspricht, habe ich die zitierte semiotische Formel erweitert zu: Die wahrnehmbare Gestalt (Stoff und Form) sowie die Platzierung eines Geräts bezeichnen dessen Funktion.(11) Um eine Bezeichnung im Sinne der Semiotik handelt es sich, da Gestalt und Platzierung auf die Funktion verweisen.

Wer einen Schornstein wahrnimmt, erkennt ihn aufgrund von dessen Gestalt-und-Platzierung in einem größeren Funktionszusammenhang (zum Beispiel einer Fabrik) als etwas, das als Schornstein fungiert hat, fungiert oder noch fungieren wird. Ein in jeder Bedeutung des Wortes frei stehendes Gebilde von der Gestalt eines Schornsteins wird hingegen allenfalls als etwas wahrgenommen, das einmal als Schornstein fungiert und vielleicht als Industriedenkmal überlebt hat, oder als Vorbote einer Anlage, deren Teil es sein wird. Lässt sich beides aufgrund der Platzierung des Gebildes ausschließen – und das ist beim "Siebten Schornstein" zweifellos der Fall –, so wird ersichtlich, dass es sich zwar um ein Gebilde von der Gestalt, jedoch nicht von der früheren, gegenwärtigen oder zukünftigen Funktion eines Schornsteins handelt. Dadurch verliert die Gestalt plötzlich ihren üblichen Zeichencharakter, erhält aber ebenso plötzlich einen anderen: Das Gebilde erweist sich als Bild. Im emphatischen Sinne der philosophischen Ästhetik ist etwas dann ein Bild, wenn es (ausschließlich) der Betrachtung dient – genauer: wenn es hergestellt worden ist, um betrachtet zu werden, also die Funktion hat, Gegenstand der Betrachtung zu sein.(12) 'Betrachtung' schließt 'Anschauung' und 'Reflexion' zusammen.

Die Gestalt-und-Platzierung der 'Schornsteine' Svenungssons verweist auf deren Funktion als Bilder. Gemäß der obigen Definition von 'Bild' erschöpfen sie sich jedoch keineswegs darin, Bilder von Schornsteinen zu sein. Der "Siebte Schornstein" ist wie alle seine sechs Vorgänger ein Bild, weil er kraft seiner Gestalt-und-Platzierung zu Betrachtungen einlädt.

Noch mehr als bei seinen Vorgängern ist Nr. 7 durch Vertikalität geprägt, die durch die Nachbarschaft des gedrungen wirkenden Marschtorzwingers überdies hervorgehoben wird. Seine konische Form, die – beim Fabrikschornstein funktionelle – Verjüngung verleiht ihm einen 'aufstrebenden', 'hoch hinauswollenden' Wesenszug. Diese Verweisung 'nach oben' über sich selbst hinaus, die ihn in eine sowohl ästhetische als auch symbolische Beziehung zum nahen St.-Petri-Kirchturm setzt, kommt nicht etwa zu seiner Gestalt hinzu; sie erschließt sich bei der Betrachtung eben dieser Gestalt. Von der Anschauung zur Reflexion führt nur der Blick, der bei der Skulptur verweilt. In der Betrachtung der Gestalt-an-diesem-Ort(13) wird die Funktion des Bild-Objekts erfüllt.

K.F.

Dr. Klaus Frerichs, Leiter des Buxtehude Museums
Susanne Mayerhofer, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Buxtehude Museums
Bernd Utermöhlen, Stadtarchivar der Stadt Buxtehude