"Das Bild kontrollieren", in: Triëdere, # 15 (2/2016)
La photo est litteralément une émanation du référent. (126)
(la Photographie) ... est indifférent agrave tout rélais: elle n'invente pas; elle est l'authentification même; les artifices, rares, qu'elle permet, ne sont pas probatoires; ce sont, au contraire, des truquages: la photographie n'est laborieuse que lorsqu'elle triche. (134-135)
... le punctum : qu'il soit cerné ou non, c'est un supplément: c'est ce que j'ajoute agrave la photo et qui cependant y est déja. (89)
Als sie 1986 erschien, habe ich die schwedische Übersetzung von „La chambre claire” gelesen, sechs Jahre nachdem das Buch in Frankreich veröffentlicht wurde. Ich erinnere mich, wie ich Roland Barthes' Blick auf die Fotografie überraschend traditionell und sentimental gefunden habe. Trotzdem hat das Konzept von Punctum für mich eine Funktion erfüllt, und wurde für meine Arbeit mit photographischem Material in den folgenden Jahren zu einem Bezugspunkt. Barthes' Idee, die eine Art von Hilflosigkeit des Fotografen voraussetzt, hat mich gestört. Ich dachte mir, ich könnte das Gegenteil beweisen: dass es möglich wäre, ein Punctum zu konstruieren.
30 Jahre sind vergangen, und gerade habe ich „La chambre claire” erneut gelesen. In der Zwischenzeit sind die Bedingungen der Fotografie, unser Verständnis und die Nutzung davon, radikal verändert worden. Der Status von Fotografien wurde ausgedünnt, während ihre Anzahl und Verbreitung - sowie die Anzahl der Fotografen - exponentiell zugenommen haben. Die Geschwindigkeit ihrer Handhabung ist extrem eskaliert. Was bedeutet das nun für das Punctum - hat dieser Begriff überhaupt noch eine Relevanz?
Barthes spricht 1980 über das Foto als eine „émanation” (des Referents, oder einfacher: des Motivs), die mittels chemischer Technologie eingefangen und festgehalten wird. Er beschreibt, wie sein Blick in einigen Fotos auf ein Detail fällt, das sein Interesse weckt und das als nicht-manipulierte „Ausstrahlung” wahrgenommen wird, von dem „was einmal war”. Dieses Detail des Bildes provoziert eine Reflexion, die in einem Raum zwischen dem messbaren (die Fotografie als objektive Spur) und nicht quantifizierbaren (die Grenzenlosigkeit der privaten Reflexion) stattfindet.
Heute ist die chemische Technologie als Voraussetzung der Fotografie von der Informationstechnologie ersetzt worden. Wo früher der Schatten eines Gegenstands als Spur, auf einem Stück chemisch vorbereitetem Material, aufgezeichnet wurde, wird er nun von einem Sensor in codierter Form gespeichert. Das heißt: er wird nur in Übersetzung zum Lesen verfügbar. Die digitale Fotografie bietet keine aussersprachliche Referenz, worauf der Zuschauer seine in der Sprache entstandenen Reflexionen projizieren darf. Dazu ist es normal geworden, sich vorzustellen, dass sämtliche fotografischen Bilder, die uns heute begegnen, absichtlich weiter verarbeitet und umgewandelt worden sind, nach der Belichtung. Getriggert von der Verwendung von Smartphones und bildbasierten sozialen Medien ist eine wahre Explosion der fotografischen Bildproduktion in den letzten Jahren entstanden. Die Verwendung von digitalen Veredelungsprozessen sind hier eine erwartete und beliebte Maßnahme. Ergebnis dieser Entwicklung ist, dass die Wahrnehmung von Fotografie als Zeugnis einer aussersprachlichen „Wahrheit” für uns alle, nicht nur für Experten und Theoretikern, nicht mehr aktuell ist. Das Foto heute, ist eine Form von Text. Nachdem ein erster Entwurf entstanden ist, geht die Arbeit mit dem Verfeinern und Klären des Inhalts weiter. Außerdem findet diese Arbeit oft kollektiv statt, innerhalb der Netzwerke wo das Foto zirkuliert. Auch früher wurden Fotos manipuliert, variiert und verändert - aber damals mittels Maßnahmen, die von aussen eingesetzt wurden, an Kopien des ursprünglichen chemischen Referenten. Die Datei, die heute vom Kamerasensor geliefert wird, hat keine vorsprachliche Existenz gehabt und kann damit als unbegrenzt formbar betrachtet werden: wer das Foto verändern möchte, wird von innen operieren. Er oder sie wird den Bildcode redigieren.
Barthes begann seinen Text nach dem Tod seiner Mutter, mit der er sein ganzes Leben zusammengelebt hatte. Der Tod ist sein Untertext, und das Foto wird als Werkzeug gegen seine Auswirkungen eingesetzt. Für eine Person, im späten neunzehnten Jahrhundert geboren, wie Henriette Barthes, blieb nach dem Tod nur eine begrenzte Anzahl von Fotografien. Alle auf Papier, in Alben oder Kisten gesammelt, die problemlos auf einem Dachboden vergessen werden können... um viel später wieder gefunden zu werden, materiell relativ unverändert. Heute sind Schatten von jedermann, in unzählige Bilddateien übersetzt, auf Festplatten und Datenspeicher verstreut worden, sowohl in unserem eigenen Besitz sowie auf Servern weltweit verteilt. Unsere Kontrolle über diese Datenmassen ist unzureichend oder überhaupt nicht vorhanden, und wenn wir einmal sterben ... müssen diese Bilddateien ständig wieder neu gespeichert und übersetzt werden, sodass nicht kurz nach unserem Tod auch die Fotos, die uns zeigen, sterben werden und sich ins Nichts auflösen. Barthes hat seine ganze Aufmerksamkeit und sein Einfühlungsvermögen auf ein winziges Detail der Fotografie konzentriert, die vor ihm als Gegenstand lag. Er hat dieses Foto als Faktum verstanden: eine stabile, direkte Spur von dem, was einmal war. Wir, die heute leben, schaffen es nicht, diese Art von Spuren zu hinterlassen.
Punctum, ist das, „was ich dem Foto zufüge”, schreibt Barthes, und fährt fort: „und was doch schon da ist.” Der erste Teil der Aussage ist unbestreitbar, da es die Aktion des Betrachters beschreibt, während die Folge dessen subjektive Erfahrung zum Ausdruck bringt. Das Ergebnis ist das Paradox, das mich beim ersten Lesen so gestört hat. Nichtdestotrotz ist es gerade diese Möglichkeit, von einem Bild so etwas zu erfahren, das mich im Grunde motiviert, mich mit Kunst zu beschäftigen. Ich möchte mich im Bild gespiegelt sehen; ich möchte, dass es zu Fragen und Gedanken stimuliert und provoziert, die meine sehr privaten sind.
Barthes' Analyse befasst sich ausschließlich mit dem Betrachten von Fotos und heute sind auch Fotos Code. Spielt das am Ende so eine Rolle, wenn die Wirkung eines Bildes Ergebnis der aktiven Auseinandersetzung des Betrachters ist? Bilder, Fotos, sind am Ende passive Objekte (oder Dateien), die nur im Dialog mit uns wirken können. Vergessen und ohne Betrachter/in, ist das Foto bedeutungslos. Auch die Fotografie der Mutters des Schriftstellers. Sie trägt ein Potential an Wirkung in sich - ja - aber dieses muss aktiviert werden, von einer/m denkenden Betrachter/in. Alle Bilder haben eine Existenz in irgendeiner Form: sie bedeuten aber nicht mehr als das, was wir auf sie mittels Sprache projizieren. Aufgabe der Künstler/in (oder Fotograf/in) ist es, die physische Form des Fotos - Kunstwerks - Textes so zu gestalten und zu definieren, dass sie Interpretationen und Ideen generiert, die der Urheber selbst interessant findet... Der Prozess beginnt mit dessen eigenen Ideen und Reaktionen, vor der physischen Erscheinung der eigenen Arbeit.
Nach dem Tod der Mutter, sucht Barthes eine Fotografie, die sie zeigt, „wie sie wirklich war”. Schließlich findet er ein Bild, auf dem die Mutter, 5 Jahre alt, mit ihrem etwas älteren Bruder in einem Wintergarten abgelichtet ist. Für Roland Barthes bedeutet dieses kleine Foto, dass er seine Mutter wieder gefunden hat: es trägt für ihn eine Wahrheit, die den anderen fehlt. In dieser chemisch induzierten „Wahrheit” wird das Konzept von Punctum verankert. Was auch immer es war, rein konkret, das dieses Bild von den anderen unterscheidet, es wird dem Leser des Textes keine Möglichkeit gegeben, es zu überprüfen. Das Foto im Wintergarten ist in „La chambre claire” nicht reproduziert (und ist auch nicht im heutigen Internet zu finden), im Gegensatz zu einer Reihe von anderen Fotos, die im Text auch diskutiert sind. Genau das Bild, das für den Gedankengang Barthes zentral ist - seine Quintessenz des Punctum - kann nicht gezeigt werden und wird uns verweigert. „Es gilt nur für mich”, schreibt er, und fährt fort: „für Sie wäre es völlig bedeutungslos”.
Wie sollen wir Barthes hier verstehen? Kann die Brisanz eines Kunstwerks überhaupt geteilt werden? Das Kunstwerk an sich, das bewusst und mit Anspruch erzeugte Bild, die Konstruktion, Installation - das greifbare Objekt - kann nicht nur, sondern ist dafür gemacht, mit so vielen Menschen wie möglich geteilt zu werden. Seine Wirkung aber kann nur außerhalb des Objektes stattfinden und diese Aktivität gehört... den Betrachtern/Betrachterinnen. Da jede/r Zuschauer/in ein Individuum ist, das unterschiedliche Vorstellungen umfasst, wird die Bedeutung der Arbeit sich verschieben, je nachdem, wer mit ihr zu tun hat. Eine erfolgreiche Arbeit ist die, die ständig neue Reaktionen und Fragen weckt und provoziert. Das Kunstwerk, dessen Bedeutung unklar bleibt, aber weiterhin die Aufmerksamkeit an sich bindet. Das Kunstwerk, das den Willen zum Handeln hervorruft.
Wenn Barthes seinen Wahrheitsanspruch auf ein Detail einer chemischen Fotografie projiziert, stellt er sich einen absichtslosen und unbewussten Fotografen vor. Barthes' Handeln ist monologisch und meditativ und könnte letztlich auch von einem beliebigen Objekt aus der Natur initiert werden. Punktum ist für ihn eine ganz innere Angelegenheit, die unter seiner absoluten Kontrolle steht, was ihm offenbar Befriedigung bereitet.
Wenn Du oder ich oder Roland Barthes uns mit einem Bild beschäftigen, das von jemandem mit Absicht produziert wurde, besitzen wir die gleiche Freiheit es zu interpretieren und zu nutzen, wie dessen Autor. So ein Bild zu kontrollieren, das kann keiner.
Jan Svenungsson