Jan Svenungsson

Gohlke, Gerrit. "Die Vexier-Therapie", in: www.artnet.de, 28.7.2008



Jan Svenungsson – „The Ninth Chimney” in Hamm (Westfalen), Firmengelände der Firma Jäckering. Künstlerbuch: „Bygga Skorsten/Building Chimneys“, Atlantis Stockholm, 2008, 184 Seiten, 260,- SKR/27,50 EUR.

Man weiß nicht, ob man den Maler, Zeichner und Bildhauer Jan Svenungsson einen Surrealisten nennen dürfte. Erstens hat er wenig mit surrealistischen Manifesten und ihrer Automatisierung künstlerischer Schaffensprozesse zu tun. Svenungsson, der manchmal wie die Verkörperung seriöser protestantischer Pflichtethik auftritt, lässt in seiner Arbeit nicht seinem Unbewussten freien Lauf. Er kalkuliert und recherchiert wie kaum ein Zweiter und hätte sich den Titel „Konzeptualist“ als staatlich verbrieftes Diplomsiegel verdient. Aber auch wenn Surrealismus heute eher nach einem geschäftsschädigenden Vorwurf als nach einer Auszeichnung klingt, müht man sich vergeblich, sinnvollere Begriffe für Svenungssons doppelbödige Typisierungen, seine stoischen Wiederholungen und seine kühl berechnenden Serienbildungen zu finden. Svenungsson schöpft aus Ideen von der Schlichtheit einfacher Grundrechengleichungen komplexe Reflektionen über die Möglichkeiten und Grenzen der Gegenwartskunst ab. Bei ihm stoßen die Kunstwerke mit einer für die Kunst unpräparierten Wirklichkeit zusammen. Es scheint nicht das Unbewusste des Künstlers Svenungsson zu sein, das dieser Surrealismus offenbart. Vielleicht ist es aber eine tiefere Bewusstseinsschicht der Kunst selbst, der der Künstler hier öffentliche Form verleiht?

Sein Verfahren für diese Konfrontationstechnik ist jedenfalls von patentierbarer Direktheit. Svenungssons prominenteste Werkgruppe besteht aus inzwischen neun realisierten Ziegelschornsteinen, deren erster 1992 vor dem Moderna Museet in Stockholm und deren bislang letzter am 18. Juli 2008 auf einem Firmengelände in Hamm neben dem unverwüstlichen Überrest eines nationalsozialistischen Hochbunkers errichtet wurde. Während die Stockholmer Museumsleute wenig schonend mit ihrem zehn Meter hohen Urschornstein umgegangen sind und ihn einfach abgerissen haben, hat schon das zweite der Svenungsson’schen Mischwesen zwischen Skulptur und archetypischer Alltagsform die Zeiten überdauert und steht als elf Meter hoher Turm bis heute auf dem Expogelände von 1993 im südkoreanischen Taejon. Sieben geklinkerte Zylinder ließen sich erhalten, zwei wurden nicht ausgeführt und aus der Zählung genommen. Jede der Skulpturen überragt die vorhergehende um einen Meter und wurde nach Möglichkeit von je einem geschlossenen Team unter Beteiligung des Künstlers gemauert, um so jedem der Bauwerke eine einheitliche handwerkliche Handschrift zu verleihen, gewissermaßen den Personalstil des leitenden Maurers. Für das jüngste Exemplar in Hamm haben vier Arbeiter in 213 Stunden auf drei Monate verteilt 7150 Klinkersteine aufgeschichtet. Die Hälfte der Steine musste extra mit einer Steinsäge zugeschnitten werden, ein lautstarkes, archaisches Unterfangen, das auch den Anwohnern nicht unbemerkt blieb, wie eine lokale Tageszeitung mit ausgeprägtem Gleichmut unter der Überschrift „Talentloser Schornstein“ berichtete.

An weit schärferer Kritik für dieses Langzeitprojekt mangelt es nicht. Nicht nur, dass Deutschlands auflagenstärkste Boulevardzeitung mit absurden Falschinformationen auf Schornstein Nummer Vier herumdrosch, weil ein 13 Meter hoher, nutzloser Schlot in der Einöde des von Landflucht und Arbeitslosigkeit zersetzten Flächenlandes Brandenburg eine auflagensteigernde Skandalsensation abgab. Sollte man dort, wo mit den Arbeitsplätzen auch die industriellen Rauchfahnen längst verweht sind, Rauchabzüge ohne Feuer bauen? Und schafft Svenungsson sich in einem markenzeichenorientierten Kunstbetrieb mehr als sein persönliches Branding unausweichlicher Wiedererkennbarkeit? Wäre einmal nicht auch schon genug gewesen? Gibt es überhaupt etwas zu sehen auf einer Kuhweide mit Ziegelachse mitten zwischen dem Vieh? Ist so viel Phallus gesund? Hat es für einen Erdkilometer nicht gereicht? Kann man so viel Langeweile noch steigern?

Letzteres wenigstens ist wahr. Svenungsson hat einen ausgeprägten Sinn für Langeweile. Sein gerade erschienenes, von einer lakonischen, untergründigen Komik und auch einem gewissen Stolz geprägtes Buch ist als Tagebuch angelegt. In einer Chronik, die den Meterzuwachs von Projekt zu Projekt mit einer Meterskala am Seitenrand veranschaulicht und jedem Chimney die Längen- und Breitengrade zur einfacheren Suche mit dem Navigationssystem zuordnet, erfährt der Leser viel über den Künstler Svenungsson und seinen Weg zum 18-Meter-Rekord in Hamm. Das liest sich aber nicht viel anders, als habe der passionierte Marathonläufer über eine athletische Übung Protokoll geführt. Man weiß am Ende alles – man weiß aber nicht warum. Ist Kopiersucht ein künstlerisches Krankheitsbild?

Wer so fragt, wird klüger, wenn er Svenungsson versuchsweise als politischen Künstler betrachtet. Psycho-Mapping the Current Crisis von 2003 etwa war eine ästhetische Serientat, die er am Vorabend des Irak-Krieges für das Moderna Museet anfertigte. In seinem Berliner Studio malte Svenungsson die Umrisse der Nahoststaaten und ihrer Anrainer als kartografische Gemäldefolge, in der Kopie für Kopie wie bei einer Konzentrationsübung aus dem Gedächtnis entstand und der eskalierenden Krise mit einem formalen Offenbarungseid der künstlerischen Handlungsmöglichkeiten gegenübertrat. Svenungsson installierte dieses formale Vexierspiel, das in den Grenzen eines heraufziehenden Krieges nichts anderes als die Wahrscheinlichkeiten seiner eigenen Farbgebung abbildete, auf dem Hintergrund einer wandfüllenden Farbfeldmalerei, die er als statistischen Index seiner vorausgegangenen malerischen Zufallsentscheidungen anlegte. Dieser Demonstration der Autonomie und Willkür in der Kunst auf den Außenseiten des in den Ausstellungsraum eingefügten Kubus hängte er auf dessen Innenwänden eine Art dokumentarische Kriegschronik gegenüber, die verknüpft mit den farblichen Indizes den Umschlag einer politischen Risikolage in die brutale Gewalt des faktischen Krieges darstellte. Konnte man den Zusammenstoß zwischen der inneren Logik malerischer Entscheidungen und der ungemilderten politischen Absurdität ungeschützter und lakonischer darstellen?

Es gibt einige solcher Beispiele im Werk Svenungssons, die Zufall und Kopie, Abbild und Abweichung als Grundlage für einen evolutionären Wachstumsprozess nutzen, der nicht nur seine eigenen Grundlagen offenlegt, sondern auch die klar umrissene Begrenztheit des künstlerischen Spielfeldes demonstriert. Fragt man den zwischen den Sprachen und Ländern reisenden, in Helsinki lehrenden polyglotten Berufslakoniker (der sich nur außerhalb der Arbeit zur Ironie verführt findet) etwa nach einem Beitrag zur grassierenden „Wissenschaft und Kunst“-Ausstellungsepidemie, offeriert er gerade keine Annäherung an die Farben und Formen der Wissenschaft, sondern lässt seine Kunst wissenschaftlich denken. Er bildet 2006 ein selbst entworfenes linguistisches Übersetzungsexperiment als Buchstaben-Gemälde auf Leinwand ab und macht die methodische Überforderung der Kunst in fremden Kontexten zu einem formal geschlossenen malerischen Sujet. Der höchst unkonfrontative Schwede zwingt die Kunst zur nackten Konfrontation. Und zwar nicht mit anderen, sondern mit sich selbst.

So gesehen herrscht eine unsichtbare Analytiker-Komik in diesen mit langen Weilen hantierenden Werken. Der verwerflicher Weise 2007 demontierte Schornstein im finnischen Kotka (wie konnte man nur!) steht wie ein Denkmal für ein gescheitertes Streben nach Höhe und Größe vor der Giebelwand einer cremegelben Mietskaserne und ist eben kein Schlot, kein Rauchabzug und primär auch keine Ziegelskulptur. Er ist eine Zeichnung, ein Bilderwitz und im gleichen Atemzug eine nüchterne Ansammlung ordentlich gemauerter Klinkerhälften, gut verputzt von Lasse Riivari als Auftragnehmer, dem Juha Krautsuk, Jari Pesu und natürlich Jan Svenungsson zur Hand gingen. Und selbst letzterer könnte nicht verbindlich für die übrigen Betrachter entscheiden, ob es Kunst oder etwas anderes ist, was man sieht, wenn man irgendwo im Wald, auf einem Acker, in einer Stadt oder auf einem Messegelände einen Nicht-Schlot stehen sieht. Vielleicht schimmernd im Abendlicht, beblökt von einer Kuh, nicht weit von verfallenden Scheunen, in deren Schatten der Kunstreisende sich fluchend die Ledersohlen durchnässt, um dem von keinem Weg erschlossenen Monstrum ein paar Schritte näher zu kommen – zweifelnd beäugt von ein paar Landbewohnern, die zu dem Bauwerk weniger als gar keine Meinung haben, weil ein paar Jahre nach der Vernissage ein Schornstein ohne Funktion genauso eine gewohnte Architektur-Vokabel wie ein Schornstein mit Funktion ist. Nicht-Bilder haben anders als zu Baubeginn nicht einmal mehr Schaulustige und Gegner.

Was also hat der Berliner Schwede mit französischen Ausbildungsweihen in Hamm gebaut? Wieder einen Turm, der eine Metapher ist und dessen Metaphorizität an ihrer Höhe und ihrem Material kollabiert? Auf dem Territorium seines begeisterten Anhängers Michael Andreae-Jäckering hat Svenungsson seinen eigenen Rekord in der lakonisch-absurden Welttheaterinszenierung gebrochen – denn The Ninth Chimney steht im Schatten eines Bunkers, eines so monströsen und geschichtsgetränkten Bauwerks, das man einem anderen Künstler vielleicht Masochismus unterstellte, errichtete er vor diesem Prospekt gewaltsamer Hässlichkeit eine Skulptur. Svenungsson verdient unser Bedauern aber nicht, denn wenn er eine Mustersituation hätte schaffen wollen, in der niemand sich mehr trauen mag, über die Bedeutung eines 18 Meter hohen Ziegelzylinders zu entscheiden, dann hätte er genau diesen Bunker gebaut. Dessen Baubeginn fällt in eine Zeit, in der Deutschland Luftschutzräume brauchte, weil es Europa mit einem Krieg überzog, diesen Bauauftrag aber nicht nur funktional verstand, sondern als ästhetische Machtdemonstration zur Ausführung brachte. Die Hochbunker, für die es eigene Patente gab, sollten als Wehrtürme die Kirchtürme übertreffen und nach dem Endsieg die Silhouetten der Städte in einem kriegerischen Staatswesen prägen. Ein Regime, das nicht für seine Wehrtürme, sondern für die Verbrennungsöfen und -schlote seiner Vernichtungslager berüchtigt wurde, schmückte sich mit Bollwerken, denen Dekorelemente wie Zinnen angefügt waren und in denen die Missproportion des staatlichen Denkens einen Ausdruck grotesker Überzeichnung fand.

Der Stadtbaurat Emil Haarmann hatte den im Rahmen des „Führer-Sofortprogramms“ entstandenen Hammer Bunker wie den Stumpf eines Burgfrieds angelegt, versehen mit einem dekorativen Balkon als Reverenz an den Führerkult, hässlich und aufgeblasen, monumental und abscheulich, eine Wucherung an der Oberfläche eines nach innen und außen aggressiven Gemeinwesens. The Ninth Chimney ist der Nachbar dieses Gebäudes. Er steht ungeschützt und prunkend hoch, magersüchtig und akkurat, ebenmäßig und interesselos auf dem Vorplatz des Bunkers herum. Das Gegenteil eines Bunkers? Ein Äquivalent in einer unstimmigen Gleichung? Die Parodie einer Säule, einer historischen Stele? Falsch. Es ist nichts zu sehen als 7150 Klinkersteine und etwas Mörtel, eine legitime Skulptur ohne Anschluss, ein Kunstwerk, das nicht umhin kann einzugestehen, dass es immer auch eine Schornsteinvokabel ist. Der Rest liegt im Auge des Betrachters, dem es nicht erspart bleibt, die Historien gegeneinander abzuwägen. Aber Jan Svenungsson war noch nie ein Künstler, dem eine Art surrealistische Tücke fremd gewesen wäre. Man sieht sie nur nicht so schnell.

Gerrit Gohlke