Jan Svenungsson

Gohlke, Gerrit. "Schornsteine, die nichts können wollen", in: Schornsteinkünstler – Stadt, Wald, Feld, Park, Fluss, Museum für Baukultur Neutal, Austria 2009


Lassen Sie sich nicht täuschen. Ein Schornstein ist ein Schornstein ist ein Schornstein. Man kann nicht jeden Tag noch einmal auf den alten Trick hereinfallen, dem in der Kunstgeschichte ganze Bibliotheken gewidmet sind. Demnach funktioniert Kunst so ähnlich wie Alchemie und verwandelt jeden vorstellbaren Sperrmüll in alarmgesicherte Museumsware. Künstler entdecken irgendeinen billigen Abfall, etwa eine Fahrradfelge, ein gammeliges Urinoir oder eine Zigarettenwerbung und erklären sie zu einem Heiligtum der Kunstgeschichte. Der Trick besteht darin, lernen Kunsthistoriker, dass der Künstler auf dem WC-Porzellan seinen Namen anbringt, etwa so wie man einen Kreditkartenbeleg unterschreibt. Genau wie bei einem Kreditkartenbeleg verwandelt sich etwa Wertloses in Wert. Ein Kassenpapierstreifen nimmt vor den Augen des Kellners die Gestalt eines Geldscheins an. Das Urinoir hingegen wird durch die Signatur des Künstlers zum Klassiker mehrbändiger Kunstenzyklopädien. Es kommt dabei nicht darauf an, wozu der Gegenstand ursprünglich einmal von Nutzen war oder was man mit viel Phantasie in ihm sehen könnte, sondern auf das, als was er nach seiner Verwandlung anerkannt wird. Der Beleg wird von der Bank akzeptiert, das Urinoir von großen Museen. Vereidigte Sachverständige, Kritiker und Buchautoren beglaubigen seinen Wert. Weder der bargeldlose Zahlungsverkehr, noch die Kunst gelten dabei als Betrug. Es geht also, wenn man so will, um Macht. Es geht darum, wer am Ende das Sagen hat.

Bevor man sich nun über den Künstler ärgert, der Schrott vergolden kann, während der eigene Gebrauchtwagen ein Ladenhüter bleibt, sollte man der künstlerischen Aneignung, dem „Ready-Made“, und all den künstlertischen Umdeklarationen und Umwandlungen mit angemessener Fairness gegenübertreten. Künstlerische Alchemie verdient Respekt. Künstler wollen durchaus nicht das Publikum für dumm verkaufen. Ihre Ready-Mades sind vielmehr die Quittung dafür, dass es einerseits alles schon gibt und zweitens Kunst von Hause aus eine eher altmodische Angelegenheit ist, die inmitten unserer hochspezialisierten Welt manchmal geradezu rückschrittlich wirkt. Dabei geht es nicht darum, dass Künstler als Sonderlinge verschrobene Ansichten von den Verhältnissen hätten, etwa als Preis für ihre Genialität und die Brillanz ihrer unerwarteten Ideen und Gedanken. Es geht vielmehr darum, dass der Künstler (gemeint ist immer auch die Künstlerin) auf eigene Faust und Rechnung arbeitet, von niemandem angeleitet und beraten, von keiner helfenden Instanz gegen Missverständnisse und Irrtümer geschützt, um sich seinen Reim auf eine Welt zu machen, die vollständig nicht mehr zu verstehen ist. Mit dem Kohlestift Berglandschaften und toskanische Dörfer zu skizzieren oder zum hunderttausendsten Mal Sonnenblumenfelder abzumalen, ist nicht zu tadeln, sagt aber nichts über Steuerpolitik und Investmentfonds aus. Künstler sind deshalb dazu übergegangen, sich ihre Wirklichkeitsausschnitte anders zu beschaffen als mit einer Staffelei und Palette in der Natur. Das Ready-Made ist schneller als jede Skizze und tut nicht so, als ob das Abmalen irgendetwas ändern würde. Das Ready-Made ist ehrlich. Vielleicht hat es überhaupt erst die Ehrlichkeit in das Schmeichelgewerbe Kunst gebracht. Zwar kann man auch fotografieren oder Sozialarbeit machen. Das Ready-Made behauptet aber gar nicht erst, dass Kunst anders und besser sei. Es ist eine handfeste Befehlsverweigerung in einer Gesellschaft, die alles reproduzieren kann. Es kopiert nicht, es nimmt in Besitz. Wäre man Ready-Made-Künstler, könnte man also sogar Schornsteine in Kunst verwandeln. Man müsste einfach nur irgendjemandes Schornstein signieren, schon wäre er, künstlerische Reputation vorausgesetzt, Kunst. Damit ist schon einmal gesagt, was Jan Svenungsson praktisch niemals tut. Er leiht sich seine Kunst nicht anderswo aus.

Oder ist ein Schornstein, den es nicht schon gibt, sondern der als Kunstwerk geplant und ausgeführt wird, trotz allem die Kopie eines Schornsteins?

Boulevard-Zeitungen glauben das. Fährt man von Berlin an Oranienburg vorbei nach Fehrbellin und wendet sich kurz vor Neuruppin westlich nach Temnitztal und Bückwitz, biegt rechts nach Wusterhausen an der Dosse ab, um der Bundesstraße 5 nach Kyritz zu folgen, dann kann man bei Rüdow nach Drewen abzweigen und erreicht unter Alleebäumen ein Dorf, das eine Sackgasse ist. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, man braucht alles, aber keine Kunst. Die Mehrheit ist überzeugt, dass man in einem Landstrich, in dem die Kamine nicht mehr rauchen, keinen gemauerten Schornstein bauen sollte, der zu keinem Betrieb gehört und sich nicht betreiben lässt. Höchstens als Mahnmal für all die wirklichen Schornsteine vielleicht, die zusammen mit der Arbeit und landwirtschaftlichen Genossenschaften schon verschwunden sind. Eine volkstümliche Tageszeitung hat daraus einen Skandal gemacht. Steuergelder seien hier für Schornstein-Kunst ausgegeben worden. „Ist das Kunst?“, fragt die Zeitung in ihrer ersten Überschrift, und stellt dann in einem zweiten Artikel neben einigen boshaften Tatsachenverdrehungen die Neutralität des Bauwerks fest, mit dem die Bürger nichts anfangen könnten. „Der Schornstein macht ihr Dorf nicht schöner oder hässlicher. Steht einfach einsam rum, hat nicht mal ein kleines Schild, das ihn als Skulptur preist.“ Außerdem sei Kunst teuer.

Teuer ist relativ, aber tatsächlich ist der Schornstein einsam. Alle Schornsteine Jan Svenungssons sind einsam, sogar der neueste, der neben einem monströsen Hochbunker auf einem Firmengelände in Nordrheinwestfalen steht, mit 18 Metern der größte der bisherigen Schornsteine, der aber isoliert im Schatten des Bunkers steht, das Fundament in den Asphalt hineingeschnitten, eine untaugliche Konkurrenz für die Betonmassen, denen er gegenüber steht. Einsam, da hat die Zeitung Recht. Ein narzistischer Emporkömmling vielleicht, der im Sommer 2008 von unten Stein für Stein an die zuletzt immer noch 8 Meter höhere Luftschutzarchitektur heranwächst, ohne sie einzuholen. Neben einer Burg wirkt ein Schornstein magersüchtig. In Drewen hatten die Verhältnisse da schon anders ausgesehen. Am Dorfeingang war der 13 Meter hohe Schornstein (mit jedem neuen Projekt seit dem ersten 10-Meter-Bau 1992 schlägt Svenungsson einen Meter auf) ein Solitär, ein Riese auf einer Weidefläche, ein Überraschungseffekt, in der Landschaft, eine architektonische Tatsache ohne Größenmaßstab. Auf den ersten Blick kann man in Drewen nicht einmal sagen, ob 13 Meter groß oder klein sind, weil es in unmittelbarer Nähe zum Vergleich nur ein paar überschaubare Stallungen gibt. Der Schornstein wirkt nicht grazil, aber schlank, und es fällt wirklich schwer zu sagen, ob es sich um Kunst oder einen Rauchabzug handelt. Der Schornstein macht Drewen nicht schöner oder hässlicher. Er ist einfach da. Etwas anderes als da ist er zunächst einmal nicht. Ganz gleich, ob man auf der durchnässten Wiese das Bauwerk drei- oder viermal umrundet, ob man von jenseits der Scheune oder einem nahen Feldweg schaut, sich im Auto zurücklehnt und die Ziegel fixiert oder die Hand auf das Mauerwerk legt. „The Fourth Chimney“, Stein des Anstoßes, steht auch zehn Jahre nach seiner Errichtung vor allem für sich selbst. Er ist wie ein Strich, eine Schraffur, die jemand auf einer Fläche angebracht hat. Jan Svenungsson manipuliert und kommentiert die Umgebung nicht, er nutzt sie als Hintergrund, als Fläche, auf der ein Schornstein angebracht ist. Ist so etwas eine Kopie?

Und wenn nicht, warum dann neunmal ein Schornstein? Warum ein Schornstein in Stockholm, ein Schornstein in Taejon in Süd-Korea, in Kotka in Finnland, im schwedischen Norrköping, ein Schornstein in Hembergen im Münsterland, einer in Buxtehude, einer in Wanås nicht weit von Malmö, einer der nicht fertig wurde, einer den man vor Baubeginn wieder aufgegeben hat und dann die beiden, von denen schon die Rede war? Betrachtet man die kaum zu zählenden Zeichnungen, mit denen der Zeichner Svenungsson in Konkurrenz zum Landschaftskünstler Svenungsson getreten ist, dann fällt auf, wie archetypisch die ersten und wie surreal absurd und streckenweise komisch, entspannt flächig, seitenfüllend kleinteilig, naturhaft in den Himmel schießend die späteren Zeichnungen sind. Der Schornstein wird hier dekliniert und konjugiert, er wird in fremde Zusammenhänge transplantiert, mit Kapitellen versehen und durch aberwitzige kunsthistorische Bezüge angereichert. Die Schornsteine spielen Theater, meist spielen sie Komödie, manchmal tänzeln sie nur so dahin. Sie beherrschen jedes Genre und können auch Fechten, Tanzen und Akrobatik, wenn der Künstler und die Kunst es gerade darauf angelegt haben. Sie können alles, sogar zum unscheinbaren Strich auf einer Tapete können sie werden. Nur die Schornsteine in Stein, die können nichts.

Das sagt natürlich nur die Boulevard-Zeitung. Aber sie irrt sich nicht ganz, obwohl manche dieser „Chimneys“ deutlich mehr können, als sie auf den ersten Blick zugeben wollen. Dem Schornstein in Hamm zum Beispiel, könnte man fast ein Doppelleben unterstellen. Der Bunker, neben dem er steht, ist Teil eines monströsen Projekts, in dem ein maßstabslos und gewalttätig gewordener Staat seine Zivilschutzarchitektur zu Wehrtürmen ausgebaut hat, die bewusst so angelegt waren, dass sie markante Punkte in sonst von Kirchtürmen beherrschten Städten werden sollten, generalbstabsmäßig geplante Demonstrationen der aggressiven militärischen Entschlossenheit einer Nation. Der Bunker in Hamm wurde mit architektonischen Zitaten dekoriert wie ein fettleibiger Burgfried und erinnert zugleich an eine Zeit, in der die staatliche Gewaltmaschinerie Schlote baute, um planmäßig Menschen zu vernichten. Svenungssons Skulptur, die einem Schornstein ziemlich ähnlich ist und von Schornsteinbauern errichtet wurde, steht wie ein irrealer Schatten neben diesem Menetekel, eine Form, die kein Gegenentwurf ist, sondern ihre Umgebung reflektiert, ohne sie umzudeuten oder zusammenzufassen. Diese Skulpturen verwenden das Bild des Schornsteins wie es Svenungssons Zeichnungen tun. Sie gehen aber über die Zeichnung hinaus, weil sie Zwitterwesen aus einer faktisch realen Architektur und einer bloßen Metapher sind. Sie wollen Bilder sein, ohne ein Bild zu erfinden. Darum kann am Ende auch niemand entscheiden, wie viel Schornsteinkopie in diesem Stück Schornsteinkunst steckt. Die Kunst schaut sich in diesen Werken verblüfft selber zu. Diese Werke scheinen sich zu fragen, seit wann und wodurch sie Kunstwerke geworden sind. Was wir sehen, wenn wir eine Skulptur betrachten. Wieviel wir sehen müssen, um Kunst nicht für Architektur halten zu können. Alles an diesen Bauwerken hat sich an das Ready-Made angenähert. Aber mit der größten Entschlossenheit und allem nötigen Aufwand weigern sie sich, in Kopien und Aneignungen aufzugehen. Es ist kein Schornstein mit der Signatur Jan Svenungssons, den man in Hamm sieht. Es sind 7150 Klinkersteine als Zeichnung im Raum, an denen wir ablesen können, wie aus etwas Wiedererkennbarem Kunst zu entstehen beginnt. Und dass Kunst nicht außerhalb der Geschichte steht. Dass die Nicht-Kunst für die Kunst eine reale Bezugsgröße ist. Svenungsson übersetzt Zeichnung in Raum, Bilder in ihr Gegenteil. Damit hat das Kopie-Problem sich umgekehrt. Jeder echte Schornstein ist ein Maßstab für Jan Svenungssons Schornkunststeine. Seine Kunst grenzt sich gar nicht ab. Sie sucht nach einer demilitarisierten Zone, einem Niemands- und Zwischenland im Definitionsmachtspiel Kunst. Dass man sie dennoch sofort als Kunst erkennt, ist das Rätsel, das Jan Svenungsson mit Geduld und Unvoreingenommenheit seit Jahren erforscht.

Jan Svenungsson zeigt nicht die Krise. Er führt ihre Unaufführbarkeit auf.

Gerrit Gohlke